Verbrauchte Worte

Verbrauchte Worte
12 Mai 2017

Die „Wertschätzung“ kommt meistens mit ihrer ganzen Verwandtschaft angerückt. Zum Beispiel in Unternehmensleitlinien, Führungskräfteschulungen, Beschreibungen von Coachingausbildungen, Selbstvorstellung, Stellenanzeigen.

Dort steht sie dann schwesterlich umgeben von „Vertrauen, Integrität, Offenheit und Fairness“. Früher kamen noch die alte Tante „ Augenhöhe“ dazu und Onkel „Respekt“. Die sind vielleicht ausgewandert oder verstorben. Macht nichts – an Nachwuchs mangelt es nicht. Es gibt „Sensibilität im Umgang miteinander“, „Anerkennungskultur“, „Achtsamkeit dem Anderen gegenüber“ und „Commitment“ usw.

Alles wichtige Inhalte und Voraussetzung dafür, dass Mitarbeiter und Führungskräfte miteinander einen guten Job machen können. Aber offenbar klingen diese Worte für viele hohl und ihre gute Bedeutung hat sich ins Gegenteil verkehrt. So sagte eine Führungskraft neulich in einem Meeting mit ihrer ersten Berichtsebene: „Geht mir weg mit Wertschätzung – wir müssen unserer Mitarbeiter nur gut führen, das reicht.“
Oder eine andere Führungskraft erzählt mir, dass in ihrem Unternehmen der Begriff „ Achtsamkeit“ aktuell der große Hype ist. „Alle sind achtsam und hören irgendwelche Apps, auf denen sie ihren Atem zählen und ganz im HJ sind, im Hier und Jetzt. Aber in den Meetings sind sie mit ihren Handys beschäftigt, hören nicht zu und stellen dann dumme Fragen.“ Er sprach über seine Peers.“ Ich fände es gut, wenn wir alle einfach aufmerksam wären und zuhören würden. Das wäre schon die halbe Miete.“ Der Mann war verbittert und machte die unschuldige „Achtsamkeit“ verantwortlich.
Im Coaching geht es auch darum, miteinander die Bedeutung von Worten herauszufinden. Was versteht ein Kunde unter „Wertschätzung“ oder „Achtsamkeit“ oder „Vertrauen“? So klären wir Unterschiede im Verständnis und finden eine gemeinsame Bedeutung für das Wort.
Genau das fehlt, wenn die Worte zwar in Leitlinien gedruckt werden, aber von jedem unterschiedlich verstanden werden. Worte ohne gemeinsame Bedeutung sind leer und können sich sogar in ihr Gegenteil verkehren. Dann werden die „Wertschätzung“ zur „kritiklosen Betütelung“ und die „Achtsamkeit“ zum sinnfreien Trend.

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