Über Respekt und Klugheit
24 Jun 2011
Fragen, die andere stellen:
Wer lügt? Ballack oder Löw? Die Bildzeitung hat auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung zwischen dem ehemaligen Kapitän der Nationalmannschaft und dem Trainer dieser Mannschaft, eine „Lügenanalyse“ angeboten. Fazit, das man als aufmerksamer Leser ziehen konnte – aber nicht musste: Vermutlich lügt Ballack, er hat das stärkere Motiv.
Die Süddeutsche machte es eleganter und fragte: „Wem gehört die Wahrheit?“. Sie bewies in der Beantwortung der „drängendsten Fragen“ in Sachen Ballack gegen Löw auch noch Humor: „Welche Rolle spielte Beckenbauer?“ „Ausnahmsweise keine“.
Weisheit zeigte in der Angelegenheit Torsten Frings, ebenfalls Ex-Nationalspieler. Er sagte: „Zu der aktuellen Situation zwischen Michael Ballack und Joachim Löw kann ich mir kein Urteil bilden, weil nur die beiden die Gesprächsinhalte kennen. Es geben gerade schon sehr viele Leute ihre Meinung dazu ab, ich jedoch will mich nicht an derartigen Spekulationen beteiligen.“
Was mich dabei beschäftigt:
Das ist die Frage des Respekts. Vor mir als Medienkonsumenten und vor einander. Wozu soll es gut sein und wie klug ist es, einander in aller Öffentlichkeit Lüge und lügnerische Absicht zu unterstellen. Ballack der ehemals große Nationalspieler, Löw, der beliebte Bundestrainer. Wie klein wirken sie dadurch.
Vor kurzem habe ich das Brand Eins Heft zum Thema „Respekt“ gelesen. RESPEKT! groß auf der Titelseite und darunter: Es wird Zeit.
Ich arbeite als Coach und Supervisorin in Unternehmen, in denen Respekt immer! ein wichtiges Thema ist. Mitarbeiter fordern von ihren Kollegen und von ihren Führungskräften Respekt, Führungskräfte wiederum von ihren Mitarbeitern und Vorgesetzten, ganz zu schweigen von den Kunden, die von den Unternehmen Respekt fordern und umgekehrt. Und jeder versteht darunter etwas anderes, ganz sicher aber erst mal den Respekt des anderen für sich. Ich kann also bestätigen, dass es Zeit ist für das Thema. Und meine Erfahrung in Teamentwicklungen und Einzelcoaching damit ist gut. Mitarbeiter und Führungskräfte diskutieren darüber mit Sorgfalt, schärfen ihre Beobachtung für Merkmale von Respekt und Verstöße dagegen. Oft entsteht ein Verständnis dafür, dass Respekt nur im Geben und in der Gegenseitigkeit und Gemeinsamkeit leben kann.
Wie anders in der Öffentlichkeit. Dort wird der Respekt sorgfältig zermahlen zwischen tatsächlichem Ereignis, Statement und Pressemitteilung, Aussagen von Freunden, Verwandten und Wegbegleitern, Sachverständigen und anderen Expertenaussagen bis zum nächsten Ereignis, Statement usw.
Wieso? Dafür liefert Wolf Lotter im Brand Eins Heft eine gute Erklärung. Von den Protagonisten des täglichen Schauspiels in Zeitungen, TV und Internet wird verlangt, dass sie Respektlosigkeit aushalten. Es gehört angeblich zu ihrer professionellen Rolle, der größten Respektlosigkeit mit der größten Gelassenheit zu begegnen. Lotter schreibt: „Als Horst Köhler im vergangenen Jahr sein Amt als Bundespräsident zurückgab, weil er den notwendigen Respekt für sein Amt vermisste, herrschte allenthalben großes Erstaunen und Verwunderung. Respekt will der Mann? Wenn das jeder wollte! Der soll gefälligst seine Pflicht tun!… In den Diskussionen von Berufspolitikern und Managern, die zum Fall Köhler geführt wurden, ging es immer wieder darum: Eigentlich hat er, Köhler, ja recht, der Umgang mit einander ist miserabel. Aber das muss er aushalten – weil ich es auch aushalten muss. Der soll sich nicht so haben.“
Genau, der soll sich nicht so haben. Und deshalb durfte Ende April der Europapolitiker und Mitglied im Bundesvorstand der FDP Jorgo Chatzimarkakis über seinen damaligen Noch-Parteivorsitzenden Westerwelle öffentlich sagen, der habe einen „Igitt-Faktor“.
Deshalb dürfen sich Politiker in Live-Sendungen gegenseitig als politisches Leichtgewicht und nicht seriös bezeichnen. Während sie vor der Sendung, in der Kulisse, noch völlig manierlich und zivilisiert einander nicht nur zuhörten sondern sachlich über politische Themen diskutierten. Als Moderatorin bei PHOENIX habe ich das mehr als einmal hautnah erlebt.
Und weil jeder und jede das aushalten muss und weil Politiker und Journalisten offenbar meinen, das Publikum wolle es so, ist das öffentliche Gespräch mit einander respektlos und oft nicht klug. Denn klug wäre es, den anderen gut zu behandeln. Wer weiß, wann man wieder mit ihm zusammen trainieren, zusammen arbeiten oder eine Koalition bilden muss …
Und sonst noch:
Die chinesische Regierung fordert heute, einen Tag nach der bedingten Freilassung des Künstlers Ai Weiwei vom Westen „Respekt für das chinesische Rechtssystem“. Was wäre da nun als Reaktion respektlos und was wäre klug? Und wer sollte wie mit dem Respekt beginnen?