Dem Chef Grenzen setzen

Dem Chef Grenzen setzen
09 Mai 2016

Menschen, die für charismatische Chefs arbeiten, werden oft beneidet. „Du hast es gut, Dein Chef hat Visionen und bringt sie auch rüber. Für so jemanden arbeitet man ja gerne.“ Das stimmt. Vorgesetzte, die ihren Mitarbeitern immer wieder helfen, das Ziel zu sehen, auch bei hochkomplexen Projekten, sind motivierend.

Und wenn sie dann noch charmant Anerkennung und Lob einsetzen, kommen sie dem Idealbild eines Vorgesetzten sehr nahe. Leider nur dem Bild.

Die Kehrseite ist nämlich, dass es oft schwer ist, ihnen den Wunsch nach noch mehr Einsatz abzuschlagen. Häufig erliegen die Mitarbeiter dem Glanz dieses „idealen Chefs“, der ein bisschen auch auf sie abstrahlt und sie quasi mit auf seine Höhe hievt. Sie neigen dann dazu, die Forderungen nach noch einem „Arbeitspaket“, noch mehr Überstunden und Erreichbarkeit auch am Wochenende zu erfüllen. Sie lassen sich bereitwillig ausbeuten, gehen über ihre eigenen Grenzen. Im Vokabular des charismatischen Chefs, der häufig selbst ein vor Arbeitslust strotzender Workaholic ist, kommen die Begriffe „Mitarbeiterfürsorge“ und „Mitarbeiterpflege“ nicht vor.

Ich kenne solche Chefs in allen Branchen, in Industrie und Verwaltung. In meinen Coachings habe ich es oft mit ihrer ersten oder zweiten Führungsebene zu tun. Menschen, die hin-und hergerissen sind, zwischen der Überlastung und dem Wunsch, ihren bewunderten Chef zufriedenzustellen. Die spüren, dass sie mit dieser Art der Selbstausbeutung sich und ihren Familien schaden, aber nicht wissen, wie sie dem Sog entkommen können.

Psychologen sprechen in diesen Fällen von einer „narzisstischen Dynamik“. Der starke Auftritt des Vorgesetzten, sein Wissen und Können verbergen häufig ein schwaches, verletzliches, leicht kränkbares Selbst. Sein innerer Antrieb ist es, immer wieder und immerzu bewundert zu werden. Der Mitarbeiter kann sich dem nicht entziehen, weil sein eigener Selbstwert nicht stark genug ist und er sich nur durch die Nähe zu dieser „Idealgestalt“ wirklich wertvoll fühlt.

Ich schlage meinen Coaching Klienten in solchen Fällen vor, erst einmal die eigene „Selbstwerträuber AG“ in Bann zu schlagen. Oft heißen die Mitglieder „Perfektionismus“, „Sei lieb und gefällig“, „Streng dich nur an“, oder „Das kannst Du noch besser“. Früh gelernte Überzeugungen, die mal geholfen haben und im Erwachsenenalter als alleinige Strategie kontraproduktiv sind. Diesen Räubern kann man starke innere Wächter zur Seite stellen, die helfen, im richtigen Moment freundlich und bestimmt „Nein“ zu sagen. Im Falle eines meiner Coaching-Klienten hieß der stärkste Wächter nach einiger Übung und ausreichendem Selbstwerttraining: „Ich schenke mir, Nein zu sagen – einfach, weil ich es verdient habe“.

Eine solche Haltung, verbunden mit ein wenig Verhandlungsgeschick, hilft auch gegen den verführerischsten Chef!

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